INTERVIEW VON SIMONE FÜRNSCHUß HOFER von DER VORARLBERGER STRASSENZEITUNG „MARIE“
Die Sinnlehre ihres großen Lehrmeisters Viktor Frankl ist für sie „eine Befreiungslehre und nicht eine Befolgungslehre“ sagt die Tiroler Logotherapeutin und Autorin Inge Patsch, 72. Neben ihrem großen Wissens- und Erfahrungsschatz sind es ihre Berührbarkeit und ihr Einfühlungsvermögen, die Gespräche mit ihr so wertvoll und ihre Bücher so alltagstauglich machen. Wir haben uns mit ihr über Lebendigkeit, Erschöpfung und einem Zuviel der guten Werte unterhalten.
Lassen Sie uns als Erstes über Lebendigkeit sprechen – und über ein eventuelles Missverständnis. Verwechseln wir heutzutage nicht allzu schnell Lebendigkeit mit Schnelligkeit und Rastlosigkeit?
Inge Patsch: Ja, und mit Aktionismus. Immer muss etwas passieren. Wir haben verlernt, die Lebendigkeit auch in der Ruhe zu sehen, also in einer gesunden Passivität. Da wird so viel von Achtsamkeit gesprochen und doch ist diese mittlerweile für mich in manchen Bereichen zu einem Aktionismus geworden. Wir verlieren dabei die Fähigkeit des Wartenkönnens, der Geduld, der Gelassenheit und auch den Respekt vor dem Du. Wer Lebendigkeit mit Schnelligkeit gleichsetzt, landet im Stress. Mit echter, guter Lebendigkeit hat das nichts zu tun.
Achtsamkeit hätte aber doch genau zum Ziel, uns wieder mehr mit uns selbst zu verbinden.
Was mir zur Achtsamkeit auffällt, ist, dass Achtsamkeit zu einem Programm geworden ist, das es zu erfüllen gilt. Dabei wird übersehen, dass es wesentlich ist, sich, seinen Körper und seinen seelischen Zustand wahrzunehmen. Dabei wird manchmal das Wertvolle, wofür es sich zu leben lohnt, übersehen. Wer beispielsweise ein Musikinstrument erlernen will, macht die Erfahrung, dass das nicht so schnell geht. Es braucht eine lange Zeit des Übens, bis es gelingt ein Stück so spielen kann, dass man sich freut. Wenn wir nun Achtsamkeit so verstehen, dass ich mich bei allem, was ich tue, immer richtig wohlfühlen soll, verlieren wir das Wertvolle, das uns am Herzen liegt aus den Augen. Niemand von uns hat Radfahren gelernt ohne Wagnis. Niemand landet auf dem Berggipfel ohne Anstrengung.
Wie aber lerne ich zu unterscheiden zwischen sinnlosen Mühen und jenen Zielen, die es wert sind, sich dafür viel abzuringen? Oder anders gefragt: Wie merke ich, dass es Sinn macht, auch durch tiefe Täler zu gehen?
Man merkt es nicht so schnell. Es geht um das Aufspüren einer hartnäckige Übellaunigkeit – ich meine nicht ein bisschen schlechte Laune hier oder da, das ist ja völlig normal – dauert diese Übellaunigkeit zu lange, sprich über Monate, dann lebe ich gegen meine Bestimmung. Wer in einem Hamsterrad drin ist, braucht oft eine längere Zeit, das eigene Unbehagen wahr- bzw. ernst zu nehmen. Meistens merkt es das Umfeld früher.
Was charakterisieren denn für Sie persönlich Momente der Lebendigkeit?
Die höchste Lebendigkeit empfinde in der Begegnung mit Menschen, speziell mit meiner Tochter und meinen Enkelkindern, wenn sie mich teilhaben lassen an dem, was sie freut. Dann fühle ich mich lebendig im Mitfreuen. Viel Lebendigkeit spüre ich außerdem in der Musik und in der Natur.
An welchem Punkt laufen wir Gefahr, unsere Lebendigkeit zu verlieren?
Wenn wir Ratgebern und Rezepten, äußeren Taktgebern, zu viel Macht einräumen und sie genauestens befolgen. Je mehr Wenn-dann-Strategien, desto größer die Gefahr, dass man gegen die eigene Fähigkeit, gegen das eigene Talent lebt. Je mehr man sich dem äußeren Rahmen anpasst, umso mehr vergeht die innere Lebendigkeit. Das passiert leider schon in der Schule.
Noch ein anderer Gedanke: Wir gehen im Umgang mit Trauernden auch immer von guten Beziehungen aus. Es gibt aber auch jene Beziehungen, wo Mann oder Frau, Töchter oder Söhne erleichtert sind, dass sie befreit sind. Ich finde es wichtig, auch das öffentlich zu benennen: Es gibt auch die Befreiung aus einer Beziehung.
Wie gelingt es uns denn, im Alltag wieder mehr zu leben als bloß zu funktionieren?
Das ist eine super Frage, weil die Funktion sollten wir sowieso nur als Begriff für Maschinen verwenden. Auto und Computer sollen funktionieren. Menschen funktionieren nicht, weil sie lebendige Wesen sind und vor allen Dingen, weil der größte Unterschied zwischen Mensch und Maschine der ist, dass wir Menschen Schmerz empfinden. Oder Enttäuschung, wenn uns etwas nicht gelingt. Umso wichtiger ist es, sich im Alltag – ich weiß, das ist jetzt eine Plattitüde, aber es stimmt einfach – sich über all diese kleinen Dinge zu freuen, die uns täglich passieren. Sie gehen uns in der Hektik verloren, weil wir nicht mehr die Zeit haben, sie wahrzunehmen. Wahrnehmung kommt vor der Achtsamkeit, das habe ich vorhin gemeint. Ein ganz praktischer Hinweis kann sein: Jeden Tag zumindest einmal kurz innezuhalten und sich selber zu fragen: Wofür? Wofür tu ich das jetzt? Und den Mut zu haben, auszusteigen, wenn einem wieder mal das Hamsterrad vereinnahmt. Dazu braucht es nicht gleich eine Therapie.
Aber im Alleingang sind Gewohnheiten schwer zu durchbrechen.
Hilfreich ist sicher, einen guten Freund, eine gute Freundin zu haben, bei einem gemeinsamen Spaziergang ohne Zeit- und Leistungsdruck die Freude am Miteinander zu kultivieren. Wieder zu entdecken: Was tut mir wirklich gut? Wo komme ich zur Ruhe? Was zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht? Aber das ist enorm schwer, in einer Zeit, in der das Nützlichkeitsdenken so allgegenwärtig ist. Unter Nützlichkeitsdenken verstehe ich: es muss sich finanziell rentieren oder was ich tu, muss meiner Gesundheit dienen, diese Einstellung macht uns krank. „Im Zweifelsfall genießen“, hat Viktor Frankl hingegen gesagt.
Aber einen immer währenden Flow Zustand hat er damit wohl auch nicht gemeint?
Nein, der Flow ist kein Dauerzustand. Für mich sind das eher magic moments oder, anders gesagt, Gipfelerlebnisse. Sie sind wunderbar, nur sind Gipfel keine Wohnorte. Es gibt eben Belastungen, die nerven und diese sollten wir auch als belastend anerkennen. Sich für eine gute Sache einzusetzen und sich bemühen ist gut. Die Mühe soll genauso wenig Dauerzustand werden wie das Gipfelerleben.
Wie noch können wir dem Leben, der Lebendigkeit im Alltag mehr Bühne geben?
Da der Alltag so was wie der automatische Radiergummi ist für das, was uns am Herzen liegt, brauchen wir sogenannte Erinnerungshilfen. Das kann ein Stein sein, auf dem etwas draufsteht, eine Karte an der Wohnungstür, die mich daran erinnert, was mir wichtig ist. Wir sollten uns eine Art Schatztruhe für uns selbst zulegen. Weil uns die Fülle an medialer Ansprache, die vielen Aufgaben, die das Leben an uns stellt, sonst vergessen lassen, was uns wichtig ist. Und noch ein Punkt: Die richtig verstandene Form der Sonn- und Feiertage wäre ja die Unterbrechung des Alltags. Die sportlichen Aktivitäten mutieren bei manchen am Wochenende aber zum selben Leistungsbeweis wie es unter der Woche die Arbeit tut. Dabei sollte der Sonntag wirklich ein „zur Ruhe kommen“ sein.
Wenn man in der Existenzanalyse vom „ungelebte Leben“ spricht, was ist damit gemeint? Kann ein Leben überhaupt ungelebt sein?
So wie ich es verstehe, ist das ein Leben, in dem ich nur mehr Dinge erledige, ohne innerliches Bewegt-Sein, dass ich nur noch mache, was andere von mir fordern. Auf diese Weise kann es geschehen, dass ich meinem Tu, keinen Sinn mehr sehe. Für Frankl ist das ungelebte Leben immer gleichbedeutend mit einem Leben, in dem ich persönlich keinen Sinn mehr sehe. Wenn die Funktion der Maschine wichtiger wird als das, was ich empfinde. Die wichtige Frage ist: Wo kann mich Welt noch berühren? Wann freue ich mich über einen Anruf? Kann ich mich von der Natur und ihren blühenden Bäumen berühren lassen? Welcher Mensch ermutigt mich?
Und wenn alles bricht: Was kann uns durch Krisen tragen?
Sie haben jahrelang mit dem leider viel zu früh verstorbenen Existenzanalytiker Günter Funke zusammengearbeitet, ebenfalls oft und gern gesehener Referent in Vorarlberg. Was haben Sie im Speziellen von ihm mitgenommen?
Da fällt mir sofort der allererste Vortrag ein, den ich von Günter Funke gehört habe. Er spricht darin von der Tyrannei der Werte: Jeder Wert kann tyrannisieren, wenn er zu einem absoluten gemacht wird und eine Art Pyramidenspitze bildet, ohne die Vielfalt zu beachten.
Es gibt also ein Zuviel, auch bei an und für sich guten Werten?
Ja, auch bei guten. Immer dann, wenn man etwas aufbauscht, wenn es „unbedingt“ eingehalten werden muss. Ich kenne Menschen, die mir ganz hektisch davon erzählen, wie gut ihnen die tägliche Meditation tut und allein, wie sie es sagen, nimmt mir fast die Luft. Bei ihnen ist die Meditation zu einem absoluten Muss geworden, zur Pyramidenspitze, die es unbedingt zu erreichen gilt. Dabei sollten wir bedenken, dass wir nicht jeden Tag dieselben Kraftreserven zur Verfügung haben. Ein „Ich kann grad nicht mehr“ wäre oft viel gesünder und erfordert Mut. Das ist für mich gute Achtsamkeit: meinen Körper wahrzunehmen und die Begrenztheit zu akzeptieren. Dann kann ich mich auch wieder freuen, wenn ich nach einer anstrengenden Wanderung den Gipfel erreicht habe.
Teilen Sie die Wahrnehmung, dass rundherum sehr viel Erschöpfung spürbar ist?
Ja, das nehme ich auch wahr. In der Erschöpfung kann ich aber eben die feinen Nuancen meines Körpers nicht mehr wahrnehmen. Eine persönliche Geschichte: Ich war im November schwimmen, weil das für mein Kreuz das Beste ist und nach drei Längen Kraulen merkte ich, dass mein Atem nicht für mein Tempo reicht. Ich war komplett irritiert und habe abgebrochen. Mein Hausarzt hat mich sofort zum Internisten überwiesen, was dazu geführt hat, dass ich seit sechs Wochen mit vier Stents lebe. Hätte ich der Forderung, in Bewegung zu bleiben, mich zu überwinden, nachgegeben, wäre dies wohl nicht so gut ausgegangen.
Hans-Peter Dürr, der Quantenphysiker, hat von der „Ermüdung der Moderne“ gesprochen. Das ist mittlerweile die Erschöpfung der Postmoderne und für viele Menschen so normal, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, dass sie selbst zu viel von sich verlangen. Ich denke, wir haben das Maß für das, was uns wirklich gut tut, verloren.
Wir sind am Ende des Gesprächs angelangt. Geben Sie uns doch noch etwas Erbauliches mit – im Sinne der Lebendigkeit.
Hans-Peter Dürr, der Quantenphysiker, hat von der „Ermüdung der Moderne“ gesprochen. Das ist mittlerweile die Erschöpfung der Postmoderne und für viele Menschen so normal, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, dass sie selbst zu viel von sich verlangen. Ich denke, wir haben das Maß für das, was uns wirklich gut tut, verloren.
Vielen Dank für das Gespräch.