Aktuelle Gedanken

Der Not-wendende und notwendige Abschied von Wenn-Dann-Strategien

Jedes Kind, jede Frau und jeder Mann lernen in unserem Kulturkreis, wie man erfolgreich und glücklich wird und Unange­nehmes vermeidet.

Es scheint so, dass Erfolg, Gesundheit und Glück jeder erreichen kann, der sich ausreichend darum müht. Schafft er es nicht, ist er selbst schuld. Das beginnt ganz banal beim Zähneputzen und dem Hinweis auf die Folgen, wenn man es nicht befolgt.

Wenn-Dann-Strategien mögen für bestimmte Bereiche eine gute Sache sein. Doch es grenzt an Größenwahn, zu meinen, man könnte alles Schwere vermeiden, wenn man „richtig“ lebt.

Einer der Architekten des Naumburger Doms hat sich in einer Ecke selbst ein Regulativ gegen den eigenen Größenwahn gestaltet.

Der Affe sitzt auf den Schultern des Architekten und soll ihn daran erinnern, dass er – im Unterschied zum Affen – denken kann und sich hüten soll überheblich zu werden.
Im Unterschied zum Tier können wir Menschen und Erkenntnisfähigkeit aneignen.

Uns allen fliegen im Laufe unseres Lebens Gebote und Verbote um die Ohren, die angeblich einzuhalten sind, wenn wir glücklich und sorgenfrei sein wollen. Meistens werden diese unrealistischen Ratgeber vom Hinweis auf Bedrohung begleitet. Die Folgen, wenn man nicht exakt befolgt, was geraten wird, seien dramatisch. Dies ist die einseitige Sicht der Machbarkeit, welche die nicht geplanten Überraschungen vergisst, die das Leben uns allen bietet. Selbstverständlich wollen wir alle, dass unser Leben gelingt und sind bereit selbst etwas beizutragen. Doch da gibt es eben jenes Phänomen der Lebensfragen – wie Viktor Frankl dies bezeichnet – und diese stören unsere akribisch geplanten Wenn-Dann-Strategien laufend und nachhaltig.


„Selbst die Gefühle sind heute vorgeschrieben: Man hat fröhlich, tolerant, zuverlässig und ehrgeizig zu sein und mit jedem reibungslos auszukommen.“ Diese Gedanken schrieb Erich Fromm vor mehr als vierzig Jahren.

Manche Mentalcoaches verbreiten die unerträgliche Information, man müsse nur alle negativen Gefühle vermeiden, dann ist das Leben wunderbar. Das ist Spitze eines Schwachsinns auf der Suche nach Glück. Niemals möchte ich in einer Gesellschaft leben, in der Wut und Trauer als „negativ“ deklariert werden. Ich will wütend sein, wenn Werte verletzt werden, die mir am Herzen liegen und über Verluste – Menschen, Gesundheit, Arbeitsplatz – will ich trauern und nicht ständig Begründungen suchen, warum gerade mir dies passiert ist.

Erkrankt eine liebe Freundin schwer, dann gibt es keine einzige menschliche Antwort auf die Warum-Frage, daher sollten wir allmählich anerkennen, dass wir nicht alles mit unserem Verstand erklären können.


Wir alle werden irgendwann mit Verlusten konfrontiert. Diese Verlusterfahrungen lassen sich nicht durch das Befolgen besserwisserischer Regeln vermeiden. Es ist mehr als verständlich, dass sich jeder Mensch Unangenehmes ersparen möchte. Sämtliche Ratgeber vergessen, dass es kein Rezept und keine einzige Strategie gibt, die uns vor Schicksals­schlägen bewahren kann. Daher bleibt uns im Angesicht von Verlusten nichts anderes übrig als in uns selbst, eine Haltung zu entwickeln, die uns schwere Zeiten bestehen lässt. Die lernen wir allerdings nicht in der Schule und noch weniger in diversen Ratgebern. Es erfordert mühsame Arbeit für unsere Seelenlandschaft und das ist oft sehr hart und herausfordernd.

Wir alle leben in einer Welt, in der alles auf Ursache und Wirkung reduziert wird, auf die sogenannte Kausalität.
Als Menschen haben wir auch die Fähigkeit, die Welt der geistigen Dimension, wie Viktor Frankl dies nennt, zu erfahren. In dieser Welt ist der Mensch frei und nicht an Normen und Vorgaben gebunden. Das Wesen der geistigen Dimension ist Freiheit, Vertrauen und Liebe.

Konkret lebt der Mensch lebt sowohl im Reich der Fakten und Beweise als auch im Reich des Geistigen oder des Spirituellen. Die große Spannung, in der viele Menschen leben heißt: Ich lebe als empfindender Mensch in einer rationalen, von Fakten und Beweisen beherrschten Welt. Wir werden mit Fakten konfrontiert, die dem eigenen Inneren nicht entsprechen und so fühlt man sich – in vielen Bereichen – in der Welt nicht verstanden und manchmal von der Welt ausgeschlossen.


Deshalb stellen sich Menschen die Frage: Werde ich als lebendiges Wesen verstanden oder werde ich als Mensch auf Fakten reduziert?
Diese Angst, auf die reine Funktion reduziert zu werden ist eine tiefste Angst, die viele Menschen wahrnehmen, doch sie haben keine Worte dafür, weil der Verstand das Reich des Geistigen nicht kennt.

Spirituelle Menschen leiden an den Fakten der Welt doppelt schwer und sind empfindsam, verletzbar und verwundbar. Dennoch sind sie von einer großen inneren Stärke geprägt. Spiritualität ist keine Weltflucht, sondern die Verbindung zwischen Lebendigem und Faktischem. Ein weit verbreiteter Irrtum belastet viele, die im weiten Feld der Esoterik ihr Heil suchen und nicht wirklich finden. Auch hier regiert in zu vielen Bereichen das Wenn-Dann. Dieses Wenn-Dann gilt allenfalls für ein technisches Gerät. Wenn ich den Mixer nicht ans Stromnetz anschließe, dann kann er nicht funktionieren.

In der industrialisierten Gesellschaft wurde der Mensch zur Maschine entfremdet und diese Selbstentfremdung hat durch das Beweisbare und Messbare ein bedrohliches Maß erreicht. Viktor Frankl erkannte diese Reduktion des Menschen schon vor vielen Jahren.


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